Tagesbelastung

Sobald man aus der Sicht des Klinikpersonals als belastbar genug erscheint, folgen sogenannte „Belastungserprobungen“. Diese können sehr unterschiedlich aussehen. Je nach Belastbarkeit, darf ein Patient das Klinikgelände verlassen, um Besorgungen zu erledigen, man darf Tagesausflüge machen, und bei gesicherter Stabilität darf man sogar über Nacht weg bleiben, um zu Hause schlafen zu können. Meine erste „Tagesbelastung“ fand im September 2015 statt. Gemeinsam mit meinen Schwestern, besuchte ich ein Liveauftritt meiner Lieblingsband "Swiss und die Andern" am Hamburger Rathausmarkt.

 

Ich freute mich sehr auf meine erste Tagesbelastung und war sehr aufgeregt, als es nun endlich soweit war. Die Pfleger brachten mir ein Schriftstück, in dem ich bestätigen musste, dass ich auf eigene Verantwortung das Klinikgelände verlassen würde, aber auch meine Rückkehr verpflichtend bestätigen musste. Vollkommen desinteressiert unterschrieb ich das Formular, und verschwand anschließend im Bad. Der Blick in den Spiegel schien mir fremd. Nicht unbedingt, weil ich mein Gegenüber kaum erkannte. Nein, vielmehr lag es daran, dass ich während des Klinikaufenthaltes kaum mehr einen Spiegel verwandte. Während des Klinikaufenthaltes schien mir meine psychische Genesung Vorrang vor meinem Erscheinungsbild zu haben. So blickte ich also ungeschminkt, verquollen und mit Tränensäcken in den Spiegel. Doch das war mir egal. Ich freute mich auf das Nachmittagskonzert meiner Lieblingsband, und auf meine Schwestern.

 

Ich putzte mir die Zähne, spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht, bürstete mir mein Haar und verließ das Zimmer. Vollkommen euphorisiert spazierte ich, an Ärzten und Pflegern vorbei, Richtung Ausgang. Als Treffpunkt hatten meine Schwestern und ich den Hamburger Rathausmarkt gewählt. Ich war sehr aufgeregt, da ich überhaupt nicht einschätzen konnte, ob eine Menschenmenge in dieser Größenordnung mir gut tun würde. Ich bezweifelte es. Dennoch wollte ich meine Schwestern und auch meine Lieblingsband unbedingt wiedersehen. Am Rathausmarkt angekommen, fühlte ich mich allein durch die Fahrt dorthin sehr angestrengt. Ich war bereits seit Wochen keine Menschenansammlungen mehr gewohnt, und hoffte nur, dass ich ziemlich fix meine Schwestern unter den Massen von Menschen finden würde.

 

Als meine Schwestern mich in der Menge zügig erblickt hatten, eilte ich zu ihnen. Ich erinnere mich wie gestern: In dieser Begegnung lag etwas Unausgesprochenes. Und auch ihre Blicke verrieten mir, dass sie von meinem äußeren Erscheinungsbild erschrocken waren. Ich wollte diesen Abend genießen und entschloss mich deshalb, mich nicht weiter mit dem „Unausgesprochenen“ zu beschäftigen. Wir suchten uns einen Platz in der ersten Reihe, in der auch gerade die Bandmitglieder standen, und sich vor Beginn ihres Auftrittes mit den Fans unterhielten. Kurze Zeit später befand ich mich in einem Gespräch mit dem Leadsänger der Band. Ich berichtete ihm von meinem Klinikbesuch, meinem aktuellen psychischen Zustand, und meiner Freude, die Jungs heute live erleben zu dürfen. Er hörte mir geduldig zu, und wünschte mir für die kommende Zeit viel Kraft.

 

Während des Konzertes konnte ich das erste Mal seit Monaten meine Probleme vergessen, und genoss seit langer Zeit endlich mal wieder etwas Schönes. Als das Konzert beendet war, suchten wir uns einen Weg aus dem Getümmel. Ich musste mich frühzeitig von meinen Schwestern verabschieden, da ich mich dazu verpflichtet hatte, um eine vereinbarte Uhrzeit wieder in der Klinik zu sein.

 

So machte ich also spät abends kehrt, und fuhr zurück Richtung Klinik. Der Himmel war klar und von Sternen beleuchtet. Diese Abendluft war mir lange fremd. Ich genoss sie sehr, und dennoch erinnerte die Abendluft mich daran, dass die schlimmsten Gedanken immer bei Nacht kamen.

 

Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht!

 

Einmal Hölle und zurück – ich erzähl dir meine Geschichte. Fortsetzung folgt!

 

 

(Photo: http://relaunch.missglueckte-welt.de/)

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